Wahrnehmungstheorie

Gastprofessur

Abgeschlossene Promotionen

Dipl. Des. Sandra Groll

Die Ästhetik des Seriellen. De­sign­theo­re­ti­sche Un­ter­su­chung zur ge­sell­schaft­li­chen Funktion der Gestaltung

Be­treu­en­de: Prof. Dr. Bernhard E. Bürdek, Prof. Frank Georg Zebner, Prof. Dr. Hans Zitko

Informationen zur Promotion

Die Lehrveranstaltungen im Fach Wahrnehmungstheorie bieten Einblicke in ein komplexes Bündel von Problemlagen. Entscheidend ist dabei zunächst die Einsicht, dass die sinnlichen Aktivitäten des Menschen in essenzieller Weise mit kognitiven, psychischen, kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren verkoppelt sind. Prozesse der Wahrnehmung zu beschreiben erfordert deshalb, weit verzweigte Gemengelagen diverser Instanzen und Kräfte ins Auge zu fassen, die sich in sinnlichen Strukturen und Phänomenen verdichten. Dieser Zusammenhang lässt deutlich werden, dass sich das Unternehmen einer leistungsfähigen Theorie der Wahrnehmung keineswegs auf partikulare Gesichtspunkte etwa visueller Rezeptionspraktiken beschränken darf, sondern grundsätzlich sphärenübergreifend und interdisziplinär ansetzen muss. Neben philosophischen Theorien spielen hier psychologische, soziologische, kulturtheoretische und medientheoretische Ansätze eine tragende Rolle. Wahrnehmung bildet nicht eine im Geschichtsverlauf gleich bleibende Aktivität des Subjekts, sondern wird in der historischen und kulturellen Evolution allererst modelliert, geformt und verändert.

Eine Betrachtung von Prozessen der Wahrnehmung ist zunächst auf die Tatsache verwiesen, dass der Mensch über die Leistungen des in der Tradition favorisierten Sehens und Hörens hinaus über einen Körper bzw. Leib verfügt, der eigene Spielarten der Empfindung und Wahrnehmung entwickelt. Die Theorie der Wahrnehmung bedarf in jedem Fall einer Theorie der Leiblichkeit, weil erst auf dem Boden einer solchen Theorie die Frage nach dem inneren Zusammenhang der unterschiedlichen Sinneskanäle in so genannten synästhetischen Vorgängen angemessen beantwortet werden kann. Hier sind vor allem die entsprechenden Ansätze der philosophischen Phänomenologie von Bedeutung (M. Merleau-Ponty, H. Schmitz, B. Waldenfels). Der Leib bildet, wie in diesem Zusammenhang zugleich deutlich wird, einen entscheidenden Faktor in den Prozessen des Eingreifens sozialer Imperative und damit von Praktiken sozialer Macht in das Leben der Individuen (Foucault). Das Verhältnis von Macht und Körper ist darüber hinaus für die Eigenart und Struktur sinnlicher, leiblicher und sozialer Räume von Bedeutung. Raumtheoretische Untersuchungen im Anschluss an den sog. spacial turn bilden ein zentrales Element der Lehre. Wichtig ist hier zunächst die Einführung in klassische und neuere Theorien zum Thema des Raums (G. W. Leibniz, M. Heidegger, K. Lewin, O. F. Bollnow, G. Bachelard, E. Ströker, K. Schlögel). Von besonderem Interesse sind dabei die in den letzten Jahrzehnten hervorgetretenen Vorstellungen von der Produktion des Raums durch soziokulturelle Praktiken (H. Lefebvre, B. Werlen, M. Schroer, M. Löw).

Aufgrund der inneren Verflechtung von Wahrnehmungsabläufen mit den übergreifenden Gegebenheiten von Kultur und Gesellschaft muss sich die Theorie der Wahrnehmung immer auch mit den Strukturen der konkreten Lebenswelt befassen. Ein geeignetes Untersuchungsfeld bilden in diesem Fall architektonische, vor allem urbane Räume und entsprechende Wahrnehmungs- und Lebensformen. Die Phänomene der Stadt,  namentlich in ihren zeitgenössischen Varianten, bilden in diesem Sinne ein in hohem Maße geeignetes Feld für die Untersuchung der komplexen Strukturen sinnlicher Praxis. Zu fragen ist hier nach den Interdependenzen zwischen den konstitutiven Elementen der Sozialwelt und den Formen der Wahrnehmung und des Verhaltens der Individuen. Dabei ist unter anderem ein spezifischer Faktor zu berücksichtigen, der in wahrnehmungstheoretischen Diskursen nicht vernachlässigt werden sollte: die Ökonomie. Eine Theorie des Raumes und der Wahrnehmung wäre defizitär, würde sie die Logik der Geldwirtschaft und deren Konsequenzen für die Verfassung von Kultur und Gesellschaft ausklammern. Hier rücken Autoren ins Zentrum des Interesses, die zur Aufklärung dieses Problemkomplexes entscheidendes beigetragen haben (H. Lefebvre, R. Sennett, M. Castells, D. Harvey, S. Sassen).

Um den sozialen Implikationen des Wahrnehmungsgeschehens gerecht zu werden, greift die Lehre auch auf klassische Positionen der Soziologie zurück (M. Weber, E. Durkheim, G. Simmel, N. Elias, E. Goffman, P. Bourdieu). Von Interesse sind dabei nicht zuletzt die Vorstellungen von einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in der Neuzeit und Moderne. Beispielgebend sind hier die Einsichten der sog. Systemtheorie, die neben der Beschreibung der Konstitution sozialer Funktionssysteme auch der Frage nach den spezifischen Verbindungen zwischen diesen Systemen nachgegangen ist. Die in diesem Zusammenhang entwickelten Modelle der Verkoppelung und des Ineinandergreifens von Teilsystemen der Gesellschaft sind für die Analyse der Wahrnehmung in jedem Fall von Bedeutung (T. Parsons, N. Luhmann, R. Münch). Hier ist nicht zuletzt die Funktion der Religion für die Gesellschaften der Moderne und Postmoderne zu berücksichtigen. Dabei stehen vor allem entsprechende Formen der Sakralisierung von Objekten, Räumen oder Situationen im Fokus des Interesses. Früh ist bemerkt worden, dass sich auf dem Wege einer Auratisierung von sinnlichen Gegenständen unter anderem ökonomische Kräfte in verschlüsselter Form Geltung verschaffen. Eine gesellschaftskritisch ansetzende Theorie der Wahrnehmung hat diese Wiederkehr des Sakralen in der Erfahrungswelt der Moderne in den Blick zu rücken (K. Marx, W. Benjamin, Th. Luckmann, P. Lafargue, D. Baecker).

Bildet die Frage nach dem Raum einen wichtigen Baustein der Lehre, so ist das Thema der Zeit nicht weniger bedeutsam. Von Interesse sind hier zunächst klassische philosophische Ansätze, die die Frage nach den Bedingungen und Implikationen der Zeitwahrnehmung aufwerfen (I. Kant, E. Husserl, H. Bergson, M. Heidegger, J. Derrida). Ebenso wie im Falle des Raumes wird hier nach den Veränderungen der Wahrnehmung von Zeit in der Moderne und Postmoderne gefragt, denn Zeit besitzt ebenso wenig wie der Raum eine historisch stabile und invariante Struktur. Entscheidend ist für die neueren Entwicklungen unter anderem die vielfach beschriebene Beschleunigung der Fortbewegung, des Transports und des Alltagslebens. Diese Entwicklung bildet eine Voraussetzung für die anhaltende Transformation der Formen des Erlebens und der Wahrnehmung bis in die Gegenwart. Eine Analyse dieser Zusammenhänge kann auf entsprechende Quellen zurückzugreifen (W. Schivelbusch, P. Virilio, H. Rosa). Das Thema Zeit ist schließlich für die in den sog. Zeitkünsten eröffneten Spielarten der Wahrnehmung von Bedeutung. Hier sind nicht nur Theater und Performance, sondern auch die digitalen Medien und der Film zu berücksichtigen. Im Fokus der Rezeption stehen dabei Autoren, die sich den Phänomenen der Zeit in entsprechenden Genres zugewandt haben  (G. Deleuze, J. Baudrillard, G. Großklaus, K. Kirchmann, B. Stiegler).

Das Lehrangebot im Fach Wahrnehmungstheorie soll zur Entwicklung eines kompetenten und kritischen Verhaltens im Hinblick auf Wahrnehmungsprozesse im Raum des Alltags sowie in Kunst und Design beitragen. Der interdisziplinäre Ansatz trägt dabei der Tatsache Rechnung, dass sich in den sinnlichen Aktivitäten des Menschen stets diverse psychische, kulturelle und soziale Kräfte durchdringen. Eine Reflexionskompetenz, die diese Strukturen thematisiert und offen legt, ist nicht zuletzt für die Produktionspraktiken in Kunst und Design von Interesse. Dies trifft zentrale Fragen der Ästhetik, die in der Theorie der Wahrnehmung selbst in den Blick zu rücken sind. Ästhetische Erfahrung, so viel muss deutlich sein, kann nicht als eine von den konkreten Strukturen der Gesellschaft abgekoppelte Praxis verstanden werden, sondern bildet selbst eine Zone der wechselseitigen Durchdringung unterschiedlichster sozialer Faktoren und Imperative. In diesem Sinne fungiert die Lehre im Fach Wahrnehmungstheorie zugleich als Arbeit an einer zeitgemäßen ästhetischen Theorie, die die Grenzen traditioneller Ästhetik überschreitet. Die Lehre versucht so gesehen, Beiträge zu den Prozessen allgemeiner Aufklärung zu liefern mit dem Ziel, die Selbständigkeit des wahrnehmenden und handelnden Subjekts zu stützen. Es geht also um einen Gewinn an Freiheit und Autonomie angesichts einer omnipräsenten Konsum- und Medienkultur, die die Handlungs- und Erfahrungsfähigkeit des Einzelnen in problematischer Weise beschneidet. Grundsätzlich intendiert die Lehre, das klassische Programm kritischer Theorie mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln der Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften weiterzuführen.