Die Kurmuschel – Charakteristik und kulturelle Praxis

Open Air – Musikpavillons in Luftkurorten

Musikpavillons sind signifikantes Relikt des kulturellen Erbes europäischer Kurorte. Die Dissertation betrachtet exemplarische Bauwerke architekturtypologisch und kunstwissenschaftlich, unter Aspekten ihrer Funktionalität, Performativität sowie Skulpturalität. Über den Weg der Kunst eröffnen sich zeitgenössische Formen der Inszenierung und Szenographie von Kur-  und Bademusik.
Der Musikpavillon ist einerseits Relikt einer reichhaltigen kulturellen Praxis und beinhaltet andererseits eine so originelle wie relevante Aufgabenstellung für eine zukünftige zeitgemäße Bespielung. Als Bauform der Bühne lange Zeit glänzender Zentralpunkt des Kurparks, vereinsamen Musikpavillons und Orchestermuscheln heute leider zunehmend, mancherorts sind sie sogar dem Verfall preisgegeben.
Parallel zur historischen Untersuchung evaluiert die Arbeit bisherige und zeitgenössische Nutzungskonzepte der Kurmuschel, aus den Ergebnissen der Forschung werden Revitalisierungsstrategien für bestehende Bauten abgeleitet, eine anwendbare Theorie, die mit dem Anspruch eines praktischen Leitfadens für Kurstädte und Kommunen aufgestellt wird. Anhand der Identifizierung bisheriger und der Erprobung neuer Nutzungsweisen wird sich im Übergang zum Praxisteil der Promotion der konzeptionelle Entwurf eines zeitgenössischen Musikpavillons anschließen. Dies kann sowohl mit einem architektonischen als auch installativen Fokus geschehen.

Die Entwicklung vom Bade- zum Kurwesen vollzog sich ab dem 19. Jahrhundert rasant. Elaborierte und durchaus gewinnorientierte Bauprogramme wurden initiiert, erstmalig Trinkbrunnen und Wandelhallen zur inneren Anwendung der Heilwässer gebaut, die ersten Grünanlagen und Kurparks geplant, Gradierwerke zu Freiluftinhalatorien umgebaut sowie Solebäder konstruiert. Gesellschaftshäuser kamen hinzu, später Casinos, Sportanlagen – und Musikpavillons. Die enge Verbindung von Architektur und Natur, sodann die Kombination der Heilanwendungen mit einem umfangreichen Vergnügungsangebot, machten die Kurorte mit ihren weiten Erlebnisräumen zur Großstadt en miniature, hier wurde antizipiert, was später die breite Gesellschaft erfassen sollte: Freizeitbewusstsein, Internationalität, Körperbewusstsein, Sport. Die marktförmige Unterhaltung und Freizeitgestaltung setze in Form einer „leisure migration“ immer größere Menschenströme in Bewegung. Die Kurstädte entwickelten sich zu einem transnationalen öffentlichen Raum, der als Bühne zahlreicher politischer, sozialer und kultureller Auseinandersetzungen fungierte.
Die Funktion der Kurmuschel war innerhalb dieses Organismus ein zentraler Kommunikationsraum. Innerhalb des Kurparks, einer pittoresken Gartenlandschaft, die primär als Ort für Konversation, Kontemplation und Rekreation angelegt worden war, funktionierte sie wie ein urbanes Auditorium. Die Kurkonzerte boten seelische Therapie, steigerten das Wohlbefinden und verhalfen zu sozialen Kontakten. Die Frage erscheint nicht zu spekulativ, ob hier erprobt wurde, was heute als „ganzheitlich“ bezeichnet wird.

Der zweite Teil der Arbeit beinhaltet die Gegenüberstellung der Eigenschaften der nur bedingt dauerhaften Pavillonarchitektur und deutet mithilfe einer architektonischen „Anamnese“ exemplarischer Bauwerke, wie stark sich der Musikpavillon und insbesondere die Kurmuschel von anderen Bühnenbauten im öffentlichen Raum unterscheidet. Nach einer Untersuchung der Bauform und Einordnung innerhalb der Baugattung Pavillon wird die Kurmuschel auf ihre inhärente Skulpturalität und ihre Semiotik untersucht. Es gilt die These zu verfolgen, dass die Kurmuschel in ihren qualitätvollen Exponenten eher eine funktionale, akustische Bauskulptur als eine Kleinstarchitektur darstellt. Um eine Abgrenzungen zu gewöhnlichen Freiluftbühnen darzustellen, wird die Kurmuschel innerhalb dieser Dissertation in Topographie, Materialität und Rezeption der Bühne definiert. Gegenstand der Forschung sind demzufolge die Phänomenologie, die Theatralität und Räumlichkeit der Kurmuschel. Zu behandeln sind die der räumlich begrenzten Bauform geschuldeten Formen der Inszenierung, der Bühnengestaltung wie –technik, der Szenographie in ihrer etwaigen Kulissenhaftigkeit.

Wesentlich erscheint zudem die Organisation der performativen Situation, der Besetzungen und Arrangements, welche aufgrund der baulichen Anlage und Open-Air-Gegebenheiten Einschränkung finden. Hinzu kommen die bauakustischen Faktoren der gerichteten Konstruktion, denn die Kurmuschel hat, im Gegensatz zum theatralen Schauraum in seiner Begrenzung zusätzlich einen weiten Schall- bzw. Immersionsraum, den sie sich zu eigen macht. Auf diese Weise erzwingt sie im Kurpark gewissermaßen sirenenhaft ihre Bindungskraft und wird zum Ort gesellschaftlicher Sozialisierungsprozesse. 

Betreuende: 

HfG Offenbach - Christian Janecke (hfg-offenbach.de)

HfG Offenbach - Markus Holzbach (hfg-offenbach.de)

Vita

Sabine-Lydia Schmidt absolvierte die HfG Offenbach im Fachbereich Experimentelle Raumkonzepte und studierte an der Hochschule Darmstadt Sound- und Music Production. Seit 2016 ist sie Kulturreferentin der Stadt Offenbach am Main und widmet ihre Arbeit der Popkultur und Kreativwirtschaft, sie führt ein Independent-Plattenlabel und arbeitet als freie Musikkuratorin. Konzeptionell beschäftigt Sie sich mit den Themen Institutionalisierungen und Vernetzung von Subkulturen. Seit 2021 promoviert Sie an der HfG interdisziplinär in Kunstgeschichte und Design bei Prof. Christian Janecke und Prof. Markus Holzbach.

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