Nina Wood
Autotheorie. Schreiben aus Bruchstücken als queer_feministische Praxis
Fachbereich Kunst
Das Dissertationsprojekt verfolgt eine interdisziplinär zwischen Literaturwissenschaft, Gesellschaftstheorie und philosophischer Ästhetik angesiedelte Fragestellung, die sich auf folgende drei Autotheorien bezieht: erstens "Testo Junkie" von Paul B. Preciado (2008/2013), zweitens "Die Argonauten" von Maggie Nelson (2015) und drittens "Borderlands/La Frontera": The New Mestiza von Gloria Anzaldúa. Die Autotheorie, für die eine Mixtur aus persönlicher Selbstbetrachtung, Körperdokumentation und -praktiken sowie Theoriereflexion wesentlich ist, ergänzt neuerdings als Subgenre die Autofiktion. Der starke Widerhall, den die neuere autotheoretische Literatur erfahren hat, zeigt zweierlei: Zum Einen, dass der Wunsch nach neuen Schreibweisen und einem erweiterten Textbegriff Forschung und Kunst zu verbinden versucht; zum Anderen, dass sie in der Weise, wie sie die politischen Dimensionen gesellschaftlicher Subjektivierung reflektieren, politisierte Identitätsdebatten berühren wie kritisieren. In Bezug auf die autotheoretischen Ansätze soll gezeigt werden, inwieweit es diesen weder nur um eine neue Form der autobiografischen Narration des Ichs und seiner Erfahrungswelten noch um eine literarisch vorgetragene, aber letztlich soziologisch erschlossene Milieustudie geht. Deutlich wird dies vor allem anhand der Versuche der Autor_innen, in ihren literarischen Selbstverständigungen die bruchstückhafte und offene Textform mit der Unbestimmtheit und Offenheit ihrer Identität kurzzuschließen; das „Schreiben aus Brüchen“, wie es dieses Projekt zu fassen versucht. Alle drei Autor_innen setzen die autotheoretische Darstellungsform und ein Schreiben aus Brüchen in einer solchen Weise ein, dass dadurch der Zugang zu einer subjektiven Erfahrung bzw. (Geschlechter-)Identität nicht einfach gegeben, sondern bruchstückhaft, instabil oder ambivalent erscheint. Die so erscheinenden Unbestimmtheitssignaturen rücken diverse Möglichkeiten der Perspektivierung in den Vordergrund und öffnen so den Zugang zur Dekonstruktion von Identitätsbildung. Selbstbezüge, die in Form von tagebuchähnlichen Fragmenten in expliziten Austausch mit gesellschaftstheoretischen Diskursen treten, werden als Weltbezüge lesbar: bezogen auf kapitalistische Produktionsverhältnisse, eine heteronormative Matrix, entsprechende Ökonomien des Begehrens und Chrononormativität. In Bezug auf die Untersuchungsgegenstände sollen folgende Fragen beantwortet werden: Erstens, wie setzt ein autotheoretisches Schreibverfahren die partikulare Erfahrung von Schreiber_innen als Gegenstand einer theoretischen Befragung hinsichtlich der Verfasstheit sozialer Strukturen ein und zweitens, mit welchen Modulationen legen Autotheorien ihren konstruktiven Prozess offen, indem sie Hintergründe und Bedingungen ihrer Wissensproduktion einbeziehen? Ziel des Dissertationsvorhaben ist es zu klären, wie die literarische Sprache als bezüglich aller Identifikationsprozesse kritische Ressource eingesetzt werden kann - mit einer Lust ihrer eigenen Überschreitung (Roland Barthes).
Künstlerisches Projekt:
Ausgehend davon, dass Autotheorien durch das Schreiben aus Brüchen eine andere Form des Erzählens hervorbringen, sollen im praktischen Teil damit verbundene rezeptionsästhetische Dimensionen mit materialästhetischen Eigenschaften von Buchkörpern vermessen werden. Denn das autotheoretische Verfahren hebt durch unterschiedliche Modi der Montage (Arrangement von Zitationen, Kommentaren in Marginalspalten, Weißräumen im Textabsatz) Zäsuren hervor, die Bruchstücke aus Selbsterfahrung und Theorie und ein Verständnis derselben entschieden voneinander abgrenzen. Gleichzeitig geben sich die Brüche auch dort zu erkennen, wo sie mit einer der autotheoretischen Erzählung inhärenten Lese- bzw. Sehgewohnheit brechen und es so vermögen, die Reflexion auf den aktiven Vollzug des Schreibens bzw. die Wahrnehmung der Rezeption zu richten; insbesondere dort, wo das lineare und mittelbare Arrangement der Erzählung mit einer simultanen und unmittelbaren grafischen Buchseite bzw. -fläche in ein Spannungsfeld gezogen wird. Unter Rückgriff auf die Zeitlichkeit der Erzählung und die Räumlichkeit der visuellen Darstellung sollen folgende Fragen beantwortet werden: Wie verhält sich die Materialität der Seite zur Materialität des Buchkörpers? In welcher Weise kann die Dreidimensionalität des Buchkörpers rezeptionsästhetische Effekte hervorbringen? Was wäre ein (Buch-)Körper, der seine Form nicht durch fest zugewiesene Strukturen organisierte, sondern einer, der allen erlaubte, ihn verschieden zu durchque(e)ren?
Betreuer_innen:
Prof. Dr. Juliane Rebentisch
Prof. Dr. Heinz Drügh
Prof. Heiner Blum
Vita
Nina Wood ist Doktorandin an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Sie absolvierte ein Bachelorstudium in Integriertem Design an der Hochschule für Künste Bremen und ein Diplom an der Hochschule für Gestaltung Offenbach.
In ihrer künstlerischen Arbeit erforscht und entwickelt sie Buchkörper, die ihre Form nicht durch fest zugewiesene Strukturen organisieren, sondern die Möglichkeit bergen, sie auf verschiedene Weise zu durchqu(e)eren. Um diese Möglichkeitsräume zu öffnen, vereint sie Typografie, poetische Zusammenhänge aus Stimmen, Bildern und an Erfahrungen geknüpfte Erzählungen mit buchförmiger Taktilität.
Ihre Arbeiten waren u.a. in folgenden Ausstellungen zu sehen: "als wäre ich du" (2023) im basis Projektraum Frankfurt, "Aus heutiger Sicht. Diskurse über Zukunft" (2021) im Museum Angewandte Kunst Frankfurt, "Aus unserer Werbung" (2019) in der HfG Kunsthalle Offenbach. Für die Poetikdozentur der Goethe-Universität Frankfurt kuratierte sie mit der studentischen Initiative "Poetik" die Ausstellung "Reality Checkpoint. Clemens J. Setz gelesen" (2023) im Schopenhauer-Studio der Universitätsbibliothek.
Ihr Dissertationsprojekt wird vom Evangelischen Studienwerk e.V. gefördert.