Dr. Anne Gräfe

Radikale Kontingenz aushalten - Die Dialektik der ästhetischen Langeweile in der Gegenwartskunst

Fachbereich Kunst

Was können wir von der Langeweile erwarten? Wohin führt uns diese Stimmung als besondere ästhetische Erfahrung? Die Arbeit eröffnet im Kontext künstlerischer Praktiken die immanente Logik und Vorstellungen von Zeit als Behauptung einer disruptiven Dialektik der Langeweile und zeigt auf, welche Formen der Aufmerksamkeit die ästhetische Erfahrung der Langeweile bietet. In den genreübergreifenden künstlerischen Arbeiten lassen sich ästhetische, gesellschaftliche, philosophische und darin oftmals politische Motive dieses menschlichen Erfahrungsbereichs aufdecken, die in einem Plädoyer für das Aushalten einer radikalen Kontingenz münden.

In den ausgewählten Arbeiten zeigen sich verschiedene Phänomene der Langeweile: In der bannenden Leere (Kap. 2) findet sich mit Heidegger die Ambivalenz zwischen blitzartigem Erfassen und unbestimmter Zeit. Dehnung von Raum und Verlangsamung von Zeit offenbaren sich als Phänomene einer nur vordergründig sich abzeichnenden Schnelllebigkeit und Verwandelbarkeit der Gegenwart. Im Moment des Dazwischen (Kap. 3) wird ein erkenntnisreicher Bruch mit Erwartungshaltungen an eine als bloß freie, leere oder Zwischen-Zeit verstandene Erfahrung mit Benjamin als Jetztzeit beschrieben. Mit den Spielarten der Wiederholung (Kap. 4) entfalten sich wiederum drei wesentliche Momente der Beobachtung, wie einem ‚Regime des Neuen‘ auf andere Weise begegnet werden könnte, mit Menke als Iteration des unversöhnten ästhetischen Geschmacksurteils.

Mit der Transformation des Kapitalismus, in dem nicht mehr nur die Logik des Kapitals, sondern die des finanzialisierten Kapitalismus die Gegenwart bestimmen, haben sich auch die Darstellungsformen der Langeweile in der Gegenwartskunst verändert. In der vorliegenden Arbeit arbeite ich daher aus den bestehenden Formen (der Langen-Weile, des Dazwischen und der Wiederholung) eine weitere ästhetischen Erfahrung der Langeweile heraus: In der Erfahrung des Zuviel (Kap. 5) als Überfluss, Indifferenz und Überdruss – sowie der dazugehörigen, erschöpfenden Apathie – lässt sich eine aktualisierte Langeweileerfahrung ausmachen und beschreiben, die der Erfahrung der Gegenwart Rechnung trägt.

Ich fasse dieses Zuviel der Wahrnehmungsüberforderung als Erfahrung der radikalen Kontingenz, die sich aus der Dialektik der ästhetischen Langeweile (Kap.6) ergibt und führe abschließend die Forderung nach einer ‚neuen Erlebnisweise‘ mit dem Befund zusammen, dass eine ernstgenommene ästhetische Erfahrung der Langeweile in der Gegenwartskunst eine kühle Distanznahme zur Welt verunmöglicht. Die Radikalität der Langeweile zu verstehen bedeutet hier, den Moment des vermeintlich Ereignislosen paradox als die Öffnung des Politischen zu deuten. Die ästhetischen Strategien der Langeweile auszuhalten heißt, den Erkenntnissen über das menschliche Zusammenleben den angemessenen Raum zu geben: „Langeweile lässt nicht kalt.“
Betreuende:
Prof. Dr. Juliane Rebentisch
Prof. Dr. Andreas Reckwitz

Langeweile Aushalten - Kontingenzerfahrung in der Gegenwartskunst

Anne Gräfe, Absolventin des Promotionsprogramms der Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach, hat ihre Dissertationsschrift unter dem Titel »Langeweile Aushalten – Kontingenzerfahrung in der Gegenwartskunst« im Kadmos-Verlag veröffentlicht.

In ihrer Dissertation geht sie der Frage nach, inwiefern das Spiel mit der Langeweile der Rezipierenden eine Form ist, die nicht wenige zeitgenössische Kunstwerke charakterisiert. Die Doktorarbeit im Fach Kunst- und Medienwissenschaft an der HfG Offenbach wurde von Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an der HfG und von Andreas Reckwitz, Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, betreut. 

Dr. phil. Anne Gräfe ist seit 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Medienkultur und Medienphilosophie an der Leuphana Universität in Lüneburg. Zuvor arbeitete sie an der Akademie der Bildenden Künste München an der Professur für Philosophie und Ästhetische Theorie, an der HfG Offenbach an der Professur für Philosophie und Ästhetik sowie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) im Projekt Pensées Françaises Contemporaines. Im Wintersemester 2024/25 vertritt sie die Professur für Philosophie/Ästhetik mit dem Schwerpunkt Theorie der Künste an der Hochschule der Bildenden Künste Braunschweig. 

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Langeweile Aushalten - Kontingenzerfahrung in der Gegenwartskunst

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vor 11 Monaten

Alumna veröffentlicht Dissertationsschrift

Anne Gräfe, Absolventin des Promotionsprogramms der Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach, hat ihre Dissertationsschrift unter dem Titel »Langeweile Aushalten – Kontingenzerfahrung in der Gegenwartskunst« im Kadmos-Verlag veröffentlicht.

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