Falk Haberkorn

Versuch über die Geste des Fotografierens

Fachbereich Kunst

Die alte Frage Was ist Fotografie? muss immer wieder neu gestellt werden. In der 180-jährigen Geschichte der Fototheorie sind Antworten gefunden worden, deren Vorläufigkeit jeweils durch den historischen Stand der Techniken, der Verfahrens- und Gebrauchsweisen, vor allem aber der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Fotografien ihre Funktion hatten und ihre Wirkung taten, bestimmt gewesen ist.

Das ist heute nicht anders. So gesehen wäre die Wirkungsgeschichte der Fotografie nur eines der vielen Kapitel der Moderne. Dass sich die Frage nach dem (ontologischen, sozialen, medialen etc.) Ort der Fotografie mehr und dringlicher denn je stellt, ist zweifellos ihrer im Digitalzeitalter exponentiell gestiegenen und alle Lebensbereiche durchdringenden Präsenz geschuldet, die nicht nur unsere Vorstellung von Bildlichkeit, sondern vielleicht sogar (so der alte kulturpessimistische Verdacht) unsere Wahrnehmgsweise als solche grundlegend verändert – so dass scheinbar nur die Aisthesis betreffende Fragen epistemologische und moralphilosophische nach sich zögen. 

So wenig, wie wir abschätzen können, welche langfristigen Folgen die Digitalisierung für unsere Gesellschaft hat, so unfähig sind wir, was uns heute als das Natürlichste erscheint (und wovon vor nicht einmal zweihundert Jahren kaum Ideen und noch weniger Vorstellungen existierten), in seinen Auswirkungen zu verstehen: Wir erliegen der Wirkung technischer Bilder auf Schritt und Tritt, ohne dass wir die Ursache dafür in den Blick bekämen. Wenn allein auf Facebook (derzeit) rund 250 Millionen Bilder am Tag hochgeladen werden, dann ist das ein deutliches Indiz, dass wir diese Bilder (sei’s ihre Produktion, sei’s ihren Konsum) offenbar nötig haben. Aber warum das so ist – woher die Bedürftigkeit nach dem technischen Bild und die Identifizierung mit seiner Technik rühren –: das ist die Grundsatzfrage, die weiterhin ihrer Klärung harrt, und zugleich der Nullpunkt, an dem eine zeitgenössische Kritik des technischen Bildes anzusetzen hat. Gleichsam dessen Urbild ist die Fotografie als historisch erstes und, mit Roland Barthes, »vollkommen neues, anthropologisch neues« Bild. Setzt man Bildlichkeit – Mimesis – als eine der anthropologischen Konstanten schlechthin, so tut sich mit einem »anthropologisch neuen«, d.h. nicht-mimetischen Bild, ein tiefer Riss auf, in dessen Dunkel verborgen liegt, was Fotografie zeitigt. Im Rahmen der konzipierten Arbeit ist es unmöglich, dieses Dunkel ausreichend zu erhellen. Doch ohne das Bestreben, es wenigstens im Ansatz zu versuchen, wäre auch die richtige Frage noch falsch gestellt.

Die Arbeit wird sich daher dem Problem von zwei diametral entgegengesetzen Punkten nähern, die im (bei Vilém Flusser geborgten) Titel präsent sind und deren behauptete Gegensätzlichkeit noch zu begründen ist: vom »Fotografischen« und vom »Gestischen«. Letzteres wird als Matrix von Bildlichkeit überhaupt interpretiert – als körperbasiertes Residuum von Mimesis. Dagegen wird, Roland Barthes folgend, das technische Bild (unbeschadet seiner vielfältigen Spielarten) als »vollkommen neues« Bild, d.h. als Bildform sui generis abgesetzt. Es stellt sich die Frage, ob das »anthropologisch neue« Bild überhaupt noch als Bild gelten kann und welche Folgen dies hätte – oder schon hat. Auf der Suche nach Antwort wird es unumgänglich sein, ein Stück ins erwähnte Dunkel hinabzusteigen, und zwar ausgehend von einer kurzen Passage bei Walter Benjamin, um dann auf einem von Christoph Türcke bereits gebahnten, psychoanalytisch grundierten Weg sich an die Phylogenese des »anthropologisch alten« Bildes heranzutasten, wodurch umgekehrt einige Aspekte der so oft in Frage stehenden und ebenso oft in Frage gestellten Ontologie der Fotografie sich ex negativo konturieren ließen. Das bliebe unfruchtbar, würde nicht dabei die soziologische Komponente mit berücksichtigt. Und trotz aller Diversität der Intentionen und Gebrauchsweisen, der Bilder und ihrer Zwecke, sind sämtliche fotografischen Akte und sämtliche Fotografien doch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: den der Aufnahme. Über den mehrdeutigen Begriff der »Aufnahme«, des Aufnehmens, Aufgenommenwerdens und Aufgenommenseins, ließe sich, steht zu hoffen, sozialpsychologisch unterfüttern, was ontologisch sonst bloß Spekulation bliebe

3 dominikgussmann

Darstellung des Mondes im letzten Viertel

1636-1637
​Kupferstich, 234 x 140 mm​

Claude Mellan

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